Die schöne Leerstelle

Oliver Pohlisch
18. Juli 2011
Tempelhofer Feld, Berlin (Bild: Valérie Jomini)

Inline-Skater flitzen über den Beton der alten Rollbahn. Direkt daneben breiten Familien ihr Picknick aus, während sich einzelne Sonnenanbeter weiter ins Gras zurückziehen. Über ihren Köpfen vollführen zahlreiche Drachen waghalsige Flugmanöver. Und in der Ferne markieren Rauchschwaden die Zone, wo gegrillt werden darf. An einem Sommertag auf dem Tempelhofer Feld stehend, wird man fast berauscht von der Weite, die sich inmitten der Grossstadt auftut – und von der Selbstverständlichkeit und Gelassenheit, mit der sich die Berlinerinnen und Berliner das unverhoffte Geschenk dieses leeren Raumes zu eigen gemacht haben.

Heissluftballons und Kampfsturzbomber

Einst war das Tempelhofer Feld ein bedeutender Schauplatz deutscher Luftfahrtgeschichte. Die Preussische Armee akquirierte das Areal vor den Toren der Stadt, um dort ihre Luftschifferabteilung zu etablieren. Die liess 1886 den Heissluftballon Barbara aufsteigen und ab 1890 allerlei, von ambitionierten Erfindern vorgestelltes Fluggerät auf seine Tauglichkeit prüfen. 1909 startete von Orville Wright den ersten Motorflug vom Tempelhofer Feld und stellte dabei einen Höhenweltrekord von 172 Metern auf. Nach dem Ersten Weltkrieg entschied der Berliner Stadtrat Adler, auf dem Feld einen offiziellen, städtischen Flugplatz zu errichten – mit finanzieller Hilfe des Flugzeugbauers Junkers und der Liniengesellschaft Aero Lloyd.
Der Luftverkehr von und nach Berlin wuchs so rasant, dass der Flugplatz nach der Machtübernahme durch das NS-Regime in grossem Massstab erweitert wurde. Von 1936–41 plante und baute der Architekt Ernst Sagebiel am Nordwestrand des Tempelhofer Feldes ein Flughafengebäude mit Passagierterminal und Wartungshallen, dessen Monumentalität noch heute das Gelände beherrscht. Allerdings wurde mit Kriegsbeginn der zivile Passagiertransport schnell eingestellt. Der Neubau wurde in der Folge zur Produktion und Wartung der berüchtigten Sturzkampfbomber genutzt. Tausende Zwangsarbeiter schufteten in dem Rüstungsbetrieb und lebten unter erbärmlichen Bedingungen in Baracken.

West-Berlins Tor zur Welt

Auf dem Gelände gemahnt nichts an dieses dunkle Kapitel, und bis heute verbinden zumindest die West-Berliner Tempelhof viel stärker mit Ereignissen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, insbesondere mit der so genannten Luftbrücke. Während der monatelangen Blockade ihrer Zufahrtstrassen durch die russische Armee wurden die Berliner West-Sektoren 1948/49 komplett über den Luftweg versorgt. Zeitenweise im 90-Sekunden-Takt starteten und landeten die Frachtmaschinen der Allierten in Tempelhof. Ein Denkmal auf dem Platz vor dem Flughafengebäude würdigt diese logistische Leistung. Noch bis 1970 blieb Tempelhof Berlins Tor zur Welt, dann war vorerst Schluss. Der Flugplatz wurde durch den neuen, moderneren Airport Tegel im Norden der Stadt abgelöst. Er besass die notwendigen Start- und Landebahnen für immer grösser werdende Passagiermaschinen. Und zudem wurden dort weniger Menschen vom Fluglärm in Mitleidenschaft gezogen als in den dicht besiedelten Wohnvierteln rund ums Tempelhofer Feld.
Der Bedarf einer gehobenen Dienstleisterklasse nach Landeplätzen für kleinere City-Hopper in Nähe zu innerstädtischen Bürolagen sorgte 1985 für eine Wiederbelebung des Flugbetriebs in Tempelhof. Doch die landeseigene Betreibergesellschaft erwirtschaftete jährlich ein Defizit von 10 Mio. €: zuviel für eine Stadt, die nach dem Mauerfall unter einer klammen Haushaltslage litt. 1996, noch unter dem rot-schwarzen Senat, wurde das Aus für den Flughafen Tempelhof beschlossen. Man entschied sich dafür, den gesamten Flugverkehr künftig über den Flughafen Schönefeld abzuwickeln, dessen Erweiterung bis 2012 abgeschlossen sein soll.
Erst die Regierungskoalition aus SPD und Linkspartei machte Tempelhof 2008 tatsächlich dicht – sehr zum Missmut eines nicht geringen Teils der West-Berliner Bevölkerung, der, noch ganz in der Frontstadt-Mentalität gefangen, den Flugbetrieb in Tempelhof als fortwährende Reminiszenz an die Luftbrücke konserviert haben wollte. Mit ins Horn blies die CDU, die in der Opposition auf die Seite der Schliessungsgegner gewechselt war. Eine Initiative von Geschäftsleuten machte sich diese Stimmung zu Nutze. Ihr gelang es, genügend Unterschriften für die Durchführung einer Berlin weiten Volksabstimmung für den Erhalt des Flugplatzes zu sammeln; der ersten nach Festschreibung dieses Instruments direkter Demokratie in die Berliner Verfassung.
Beim Referendum im April 2008 konnten sich die Flugplatz-Befürworter allerdings nicht durchsetzen. Sie versammelten 530'000 Stimmen hinter sich; 610'000 wären notwendig gewesen, um das erforderliche Quorum von 25 Prozent aller Wahlberechtigten zu erreichen. Das Abstimmungsverhalten zeigte die weiter vorhandene Teilung Berlins. Im Osten stimmten die Wählerinnen und Wähler mit deutlicher Mehrheit für die Schliessung Tempelhofs. Der Tower stellte den Betrieb ein, die Positionslichter erloschen. Fortan teilten sich allein Vögelschwärme die 300 Hektar grosse Fläche mit Wachschützern, die dafür sorgen sollten, dass niemand Unbefugtes über den Zaun auf das stillgelegte Areal gelangte.

«Tempelhof für alle»

Das Planungsverfahren zur künftigen Nutzung des Feldes vermittelte der Senat mit einem Hin und Her zwischen der Versicherung, die Anwohner weitestgehend in die Entwicklung des Tempelhofer Feldes mit einzubeziehen, und vagen Andeutungen von möglichen Grossprojekten und einer Bebauung mit Wohnraum im höheren Preissegment.
Dieses Lavieren forderte insbesondere die in Kreuzberg und Neukölln traditionell starke linksautonome Szene heraus. Schon seit einigen Jahren mobilisiert sie mit dem Reizwort ,Gentrifzierung‘ gegen innerstädtische Aufwertungsprozesse, mit denen ärmere Bevölkerungen und alternative Lebensformen immer mehr an den Rand gedrängt werden. Dass die Schliessung Tempelhofs sich in dieses Szenario durchaus nahtlos einfügt, belegt die Entwicklung im direkt östlich an den ehemaligen Flugplatz angrenzenden Neuköllner Schillerkiez. 20'000 Menschen leben hier auf 95 Hektar – in zumeist einfachen Mietwohnungen. Das Quartier hat eine Arbeitslosenquote von gut 40 Prozent. Noch 2008 stand dort ein Zehntel des Wohnungsbestands leer, seit Stilllegung des Flugbetriebs aber beträgt der Quadratmeterpreis bei der Neuvermietung frei werdender Wohnungen im Durchschnitt um 7,50 € und liegt damit über dem Mittel des Berliner Mietspiegels.
Rasch schallte aus der Szene der Ruf nach einer sofortigen Öffnung des Tempelhofer Feldes. Seiner drohenden Preisgabe an exklusive und kommerzielle Nutzungen sollte eine Aneignung ,von unten‘ entgegengesetzt werden. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, wurde im Juni 2009 unter dem Slogan ,Tempelhof für alle‘ zu einer Besetzung der Fläche aufgerufen. Mehr als 3000 Menschen kamen zu dieser Aktion. Ein massives Polizeiaufgebot verhinderte, dass die Demonstranten auf das Feld stürmten. Die Aussicht auf weitere Besetzungsversuche war wohl nicht ganz unerheblich für die Entscheidung des Senats, das Tempelhofer Feld schliesslich doch zu öffnen. Selbst die bürgerliche Presse monierte die Absurdität, Steuergelder zu verschwenden, um die Bevölkerung, die ja eigentliche Eigentümerin des Geländes ist, von diesem fernzuhalten.

Schwebezustand mit absehbarem Ende

Seit Mai 2010 ist das Tempelhofer Feld für alle zugänglich. Anders als bei den übrigen Berliner Grünanlagen allerdings nur tagsüber. Das Gelände bleibt umzäunt und bei Dunkelheit werden die Zugangstore vom Sicherheitsdienst geschlossen – aus Furcht vor Vandalismus, Vermüllung und Drogenhandel. Für die Parkbewirtschaftung, die von der landeseigenen Berlin Grün GmbH vorgenommen wird, sind 2011 950'000 € veranschlagt.
Am Eröffnungstag kamen 100'000 Besucher, jetzt nutzen an schönen Wochenenden zwischen 20'000 und 40'000 Menschen das Areal. Und die Stimmen, die sich wünschen, das Tempelhofer Feld möge doch dauerhaft so bleiben, wie es gerade ist, sind zahlreich zu hören. Doch ein Gelände, das auf ewig Projektionsfläche für unerfüllbare Wünsche bleibt, ist an dieser zentralen Stelle der Stadt wohl kaum durchsetzbar gegen die herrschende Planungslogik, jeden Quadratmeter eindeutig zu definieren. Und seit April ist spruchreif, dass der Schwebezustand, in dem sich das Tempelhofer Feld durch das erfolgreiche Drängen auf einen öffentlichem Zugang und der schwierigen Suche der Politik nach einer Entwicklungsformel befindet, ein absehbares Ende hat.
Der Berliner Senat schloss das dreijährige Planungsverfahren für die Flächennutzung des Tempelhofer Feldes nun ab – mit dem Hinweis, seiner Selbstverpflichtung zur breitest möglichen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger hinlänglich nachgekommen zu sein. Das Verfahren sei durch Fragebögen, öffentliche Konsultationen und Ausstellungen von Zwischenergebnissen flankiert gewesen. Alle sechs Entwürfe, die in die engere Auswahl gekommen waren, haben dementsprechend den Wunsch nach Erhalt von möglichst viel Freifläche aufgenommen und sehen Bebauungen nur am Rand vor. Zum Sieger kürte die Jury den Entwurf von ,gross.max. Landschaftsarchitekten‘ und ,Sutherland Hussey Architekten‘ aus Grossbritannien. Er sieht auf dem Feld ein Netz aus sich kreuzenden, elliptischen Wegen vor. Im Nordwesten soll ein künstlicher See entstehen, die nördliche Rollbahn zum Boulevard werden und in der Mitte des Feldes ein Ausstellungspavillon errichtet werden. Am spektakulärsten erscheint der 60 Meter hohe Kletterfelsen, den sich die Architekten für die Ostseite wünschen – knapp vor der baulichen Erweiterung des Schillerkiezes, die allerdings von der Senatsbauverwaltung von vorneherein festgelegt wurde.

Hauptsache International

Jakob von Tigges, Architekt und Stadtplaner, hatte da viel Grösseres vor: Seine Erhebung ,The Berg‘ sollte gar 1000 Meter hoch werden und das ganze Tempelhofer Feld bedecken – mitsamt Gondelbahn und Skipisten. Allerdings hatte er seinen Entwurf gar nicht erst zum Wettbewerb eingereicht, vielmehr verstand Tigges seinen Berg als Metapher für die Einfallslosigkeit, die das Planungsverfahren aufgrund enger Restriktionen gefördert habe. So ist etwa rund ein Drittel der Fläche des Tempelhofer Feldes sowieso schon der Internationalen Gartenausstellung (IGA) vorbehalten, die 2017 über die Bühne gehen soll. Beabsichtigt ist, die IGA von mehreren Kuratoren gestalten zu lassen. Der Zugang zu diesem Geländeteil wird dann während der sechs Monate dauernden Ausstellung kostenpflichtig. 50 Millionen € sollen in das Projekt fliessen. 10 Mio. kommen direkt aus dem Etat für die Umgestaltung des Tempelhofer Feldes, die sich der Senat bis 2020 insgesamt 81,5 Mio. € kosten lassen möchte.
2020 soll das Tempelhofer Feld dann im Herzen des Geländes einer Internationalen Bauausstellung (IBA) liegen. Ohne bisher konkrete Pläne dazu aus dem Hut gezaubert zu haben, möchte die Senatsbauverwaltung mit einer IBA das bewerkstelligen, was zum Beispiel der Masterplan Innenstadt Mitte der 1990er-Jahre vergeblich versucht hatte: ein neues Leitbild für die städtische Entwicklung Berlins zu formulieren. Senatsbaudirektorin Regula Lüscher hat sich dafür Verstärkung aus ihrer schweizerischen Heimat geholt. Ausstellungsmacher Martin Heller soll helfen, den Diskurs anzukurbeln – über «städtisches Kapital, das es fruchtbar zu machen gelte», wie es nebulös in den Verlautbarungen der Senatsbauverwaltung heisst. Derweil droht den Mieterinnen und Mietern in den durch die lBA 1984 geschaffenen Sozialbauwohnungen in Kreuzberg und Tiergarten die Verdrängung durch drastische Mieterhöhungen.
Die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner des Neuköllner Schillerkiezes sind skeptisch, ob ihnen all die Pläne für das Tempelhofer Feld irgendeinen Vorteil bringen werden. Lüscher hatte auf einer Bürgeranhörung deutlich gemacht, dass mit der geplanten Neubebauung des Feldes ab 2019 direkt vor dem Schillerkiez auf jeden Fall Wohnungen für rund 3000 Menschen entstehen würden, die teurer sind als der Bestand. Schon jetzt ist ein Umzug innerhalb des Viertels für Hartz-IV-Empfänger und Geringverdiener praktisch unmöglich.
Bis aber bauliche Tatsachen auf dem Tempelhofer Feld geschaffen werden, erlaubt die Senatsbauverwaltung so genannte temporäre Pioniernutzungen in ausgewiesenen Parzellen an den Rändern des Feldes. Initiativen und Vereine konnten sich mit ihren Ideen und Vorschlägen um eine solche Parzelle bewerben und diese gegen eine geringe Pacht nutzen. Besonders erfolgreichen Pioniernutzungen winkt die Übernahme ins Konzept des zukünftigen Parks. Während nun demnächst im Norden des Geländes Shaolin-Mönche in einer Leichtbauhalle ihre Kampfkünste präsentieren dürfen, entsteht gerade nahe des Schillerkiezes ein kollektiv bewirtschafteter Stadteilgarten. Es bleibt zu hoffen, dass die urbanen Gärtner sich am Ende nicht so leicht aus ihrem neugeschaffenen Paradies vertreiben lassen.

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