Lowtech im Regenwald

Christian Schittich
9. Mai 2024
Foto: Markus Heinsdorff

Der Erhalt des Regenwalds ist im Kampf gegen den Klimawandel und zum Schutz der Artenvielfalt unverzichtbar. Doch allein in Südamerika fallen jährlich etwa 26'000 Quadratkilometer dem Raubbau an der Natur zum Opfer. Gleichzeitig findet in Venezuela aktuell eine der grössten Flucht- und Migrationsbewegung in der Geschichte des Kontinents statt. Massenweise verlassen die Menschen ihre angestammte Heimat, weil sie dort kein Auskommen mehr finden, um dann in schlecht bezahlten Jobs im Bergbau oder als Hilfsarbeiter in den Metropolen zu stranden. Zwar versucht die Regierung, die indigene Bevölkerung durch kollektive Landtitel und Autonomiestatus in ihrem ursprünglichen Lebensraum zu halten, doch ohne eine drastische Verbesserung der Lebenssituation vor Ort kann dies kaum gelingen.

Eine nachhaltige Möglichkeit, den Menschen ein Einkommen zu sichern, bietet die Agroforstwirtschaft, die im Wesentlichen auf der Ernte und dem zusätzlichen Anbau von Nicht-Holz-Waldprodukten basiert. Die Funktion des Schulungszentrums am Rande der kleinen Ortschaft Caño Uña ist es, den am Río Sipapo, einem Nebenfluss des Orinoco lebenden Piaroa die Methoden der Agroforstwirtschaft in mehrtägigen theoretischen wie praktischen Schulungen zu vermitteln. Insbesondere geht es darum, die Produktion von Copoazú, einer endemischen Kakaosorte, sowie die Nutzung weiterer Naturrohstoffe in der gesamten Region zu fördern und gleichzeitig Absatzmöglichkeiten dafür aufzuzeigen und zu generieren. Dafür kommen die Teilnehmenden zu Fuss und in Booten aus einem Waldgebiet, das in etwa der Grösse der Schweiz entspricht.

Foto: Markus Heinsdorff

Markus Heinsdorff konnte schon in der Vergangenheit einige spektakuläre Architekturprojekte verwirklichen: das «Deutsch-Chinesische Haus» aus Bambus an der Expo 2010 in Shanghai zum Beispiel oder verschiedene mobile Ausstellungs- und Veranstaltungspavillons, die im Auftrag der Bundesrepublik durch die wichtigsten Metropolen in China und Indien tourten. Gewissermassen als Vorgängerbau zu dem aktuellen Projekt entwarf und realisierte er 2009 im Auftrag einer Stiftung eine kleine Schule im Regenwald Ecuadors. Die «Rain Forest Academy» in Venezuela dagegen hat er selbst initiiert und sich auch um deren Finanzierung durch Sponsoren gekümmert. Damit die Räumlichkeiten später wirklich angenommen werden, war es Heinsdorff wichtig, alle Planungen und bautechnischen Massnahmen vorweg mit der örtlichen Gemeinschaft abzustimmen. Nach der Fertigstellung im vergangenen Winter können nun bis zu 60 Personen gleichzeitig an den Lehrgängen teilnehmen.

Foto: Markus Heinsdorff

Das Zentrum der knapp 300 Quadratmeter grossen Akademie bildet die Rotunde, ein grosses, offenes Haupthaus, das durch überdeckte Gänge mit kleineren Rundhäusern verbunden ist. Diese beherbergen das Schaulager für Fermentierung, Trocknung und Lagerung der Copoazú-Bohnen sowie zum Pressen von Ölen, ausserdem die Gemeinschaftsküche und die Sanitäranlagen. Abgesetzt davon befindet sich ein kleiner Trakt mit Unterkünften für bis zu vier Touristen. Ein sanfter und umweltfreundlicher Tourismus soll dem angrenzenden Dorf zukünftig zusätzliche Einnahmen erschliessen. Ausserhalb der Reisezeiten können die beiden Gästezimmer als Büros genutzt werden. Die Tagungsteilnehmer selbst schlafen ähnlich wie in ihren traditionellen Gemeinschaftshäusern in Hängematten, die direkt unter dem Dach des Schulungsraums aufgehängt sind.

Die Inspiration für sein Konzept, die einzelnen Häuser sternförmig und mit überdachten Verbindungsgängen um das zentrale Hauptgebäude anzuordnen, nahm Heinsdorff von der Copoazú-Blüte: Um deren strahlenförmigen Kelch wachsen kreisförmig Blüten- und Pflanzenblätter in mehreren Schichten. So wirkt das Ensemble aus Haupt- und Nebengebäuden optisch als Einheit, gleichzeitig aber bietet es durch die Trennung der unterschiedlichen Nutzungen einen reibungslosen Funktionsablauf.

Foto: Markus Heinsdorff

Mit der Form der einzelnen Baukörper sowie den verwendeten Materialien lehnt sich der Entwurf an die traditionelle Architektur der Piaroa an. Das indigene Volk, dessen Angehörige sich in ihrer Sprache selbst als «Waldmenschen» bezeichnen, lebte ursprünglich in Gemeinschaftshäusern mit mächtigen, kuppel- oder zwiebelförmigen Dächern auf grossen Lichtungen im Regenwald. Heute werden diese eindrucksvollen Bauten von offizieller Seite durch billige Standardhäuser aus Beton und Wellblech ersetzt. Zu derart gesichtslosen Konstruktionen will Heinsdorff mit seiner Schule eine Alternative aufzeigen. Dabei möchte der Deutsche zudem die traditionellen Konzepte an die heutige Zeit anzupassen. Wichtig waren ihm nicht zuletzt ausreichend helle Räume, denn die ursprünglichen Wohnbauten, deren mit Palmwedeln gedeckte Dächer fast bis zum Boden reichen, sind im Inneren ziemlich dunkel.

Fotos: Markus Heinsdorff
Fotos: Markus Heinsdorff

Bei den verwendeten Baumaterialien handelt es sich fast ausschliesslich um nachwachsende Rohstoffe direkt aus der Region: verschiedene Holzarten für die Tragkonstruktion und Palmwedel zum Eindecken der Dächer. Darüber hinaus kam gestampfter Lehm bei den Böden und einigen Aussenwänden zum Einsatz. Nur für die Fussböden und Waschbecken in den Sanitärräumen wurden kleine Mengen an Zement verwendet. Ebenso griffen die Planer für die Holzverbindungen auf Schrauben, Gewindestangen und Nägel zurück. Die weitgehende Beschränkung auf örtliche Naturmaterialien ist neben den ökologischen auch logistischen und wirtschaftlichen Gründen geschuldet. Denn alle nicht vor Ort vorhandenen Baustoffe – neben Zement und Stahlverbindern zählen dazu vor allem die Wasserleitungen – mussten von weit her auf Booten oder zu Fuss durch den Dschungel zum Bauplatz gebracht werden. Errichtet wurden alle Gebäude von den in der Region lebenden Piaroa selbst, die dafür bezahlt wurden. Erfahrene Handwerker leiteten sie dabei an. Auf diese Weise soll auch dafür gesorgt werden, dass traditionelle Bautechniken weiterleben.

Die grosse Rotunde für den Unterricht ist als stützenfreier Raum ausgebildet. Die tragenden Pfosten sind in den Boden eingegraben und durch horizontale Riegel in 2,5 Metern Höhe verbunden. Auf diesen liegen die steil nach oben laufenden Dachsparren auf. Die Dachbedeckung aus Palmwedeln verschiedener Baumarten ist in traditioneller Technik an der Unterkonstruktion festgebunden. Ein charmantes Detail im Haupthaus zeigt die halbkreisförmige Tribüne mit zwei Sitzreihen übereinander, die sich andersherum auch als Schreibtisch mit Bank verwenden lassen.

Foto: Markus Heinsdorff

Die Konstruktion der kleineren Baukörper ist der des Hauptgebäudes ähnlich. Die Häuser für Küche und Schaulager bleiben ebenso wie der Versammlungsraum offen, ohne spezielle Aussenwand. Die Fassaden der Sanitärräume dagegen bestehen aus Stampflehm, die der Touristenunterkünfte aus einfachen Holzbrettern mit eingesetzten Fenstern und Insektengittern. Alles in allem erfolgte der Bau der Schule nach einem Lowtech-Prinzip mit einfachsten Mitteln. 

Das wichtigste Werkzeug vor Ort war die Motorsäge, mit der die Balken mit erstaunlicher Präzision direkt im Wald aus den Baustämmen geschnitten wurden. Obwohl das ursprünglich vorgesehene Budget nicht eingehalten werden konnte, betragen die Gesamtkosten umgerechnet nur rund 20'000 Franken. Dieses Geld wurde vor allem für das von ausserhalb herangeschaffte Material sowie den Lohn der Arbeiter ausgegeben. Markus Heinsdorff wollte in Venezuela einen Pionierbau schaffen, der nicht nur soziale Funktionen erfüllt, sondern auch demonstriert, was mit kleinstem Aufwand erreicht werden kann. Das ist ihm eindrucksvoll gelungen.

Grundriss: 1 Versammlungshaus, 2 Schaulager, 3 Küche, 4 und 5 Sanitärräume der Schule, 6 und 7 Sanitärräume für Touristen, 8 und 9 Schlafräume für Touristen (© Markus Heinsdorff)
Pläne von oben nach unten: Schnitt und Ansicht (© Markus Heinsdorff)
Konzept und Architektur
Markus Heinsdorff

Beratung für indigenes Bauen
Renny Barrios Villegas

Planzeichnungen
Lukas Struthmann

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