Wohnen im Kunstwerk

9. März 2007

Einfamilienhaus
2005

Architektur (Entwurf)
Peter Wigglesworth
Gachnang

Ausführung
Peter Wigglesworth
Antonio Cocca
Udo Fasching
Zürich

Zwei Wandscheiben vor dem Haus definieren einen Aussenraum. Fotos: Susanne Stauss

‹Die Formaskese› war der Titel eines Artikels (HP 9/1993) über die Möbel des Künstlers Peter Wigglesworth, eines seit lan­gem in der Schweiz lebenden Engländers. «Kargheit und Simplizität verbreiten diese aus Holz gearbeiteten Tische, Stühle und Hocker», hiess es. Diesen Prinzi­pien ist er treu geblieben. Neu ist der Massstab seiner jüngsten Arbeit: ein Haus für eine fünfköpfige Familie. Es steht an prächtiger Lage über dem Thurtal mit Blick vom Säntis bis zum Uetliberg. 15 verschiedene Ideen hat er für das Haus entwickelt, bis die richtige feststand.

An der Hauptfassade wirkt das zweigeschossige Haus mit den drei grossen Fenstern in den drei Feldern massstabslos.

Das Haus setzt die kantige Tradition der wigglesworth­schen Möbel im grossen Massstab fort. Wobei ‹Haus› der falsche Ausdruck ist; es ist ein Objekt, das losgelöst von sei­ner Umgebung auf dem grünen Rasen sitzt. Es besteht aus dem Wohn- und dem Schlaftrakt, zwei grossen Kisten, zwischen die die Erschliessung eingeschoben ist. Trotz dieses klassischen Musters wirkt der Bau massstabslos; seine Geschosse sind zunächst nicht ablesbar. Wie hoch ist die Wand, aus der drei Fenster ins Tal blicken? Erst die Türen an der Stirnseite geben das Grössenverhältnis, machen aus dem Objekt ein Haus.

Das von oben in den Raum fallende Licht erzeugt in der Halle eine sakrale Stimmung.

Hinter der Eingangstür und dem Windfang empfängt eine zweigeschossige, von oben belichtete Betonhalle den Besucher. Eine Treppe führt nach oben auf die Galerie; kantig ists, karg, sakral und aufgeräumt. Man nimmt Haltung an. Sieben identische Türen sind nach strengem Muster symmetrisch angeordnet: im Erdgeschoss eine mittig links, zwei geradeaus und zwei rechts, im Obergeschoss zwei links. Diese Strenge setzt sich auch hinter den Türen fort, in den Zimmern und Nasszellen, im gut hundert Quadratmeter grossen Wohn-, Ess- und Kochraum. Ein Betonboden und weisse Wände prägen hier das Bild, farbig gestrichene Wände setzen Akzente. Prägend sind auch die Wandschränke, von denen es im Haus fast sechzig gibt. Denn Wigglesworths Haus ist so, wie seine Möbel und Bilder sind: Produkte der Formaskese, bei denen alles präzise durchdacht und nichts zufällig ist. Also müssen auch die Attribute menschlichen Lebens ihren Platz haben: im Wandschrank. Dass sich die Betten, Tische und Stühle nicht einfach wegräumen lassen, ist kein Problem, denn die Möbel und Leuchten stammen ja aus der gleichen Feder, und auch für die Kunst ist gesorgt.

Eine Schrankwand trennt den Wohn- und Essraum von der Küche ab.

Ist es nicht anstrengend, in einem Gesamtkunstwerk zu wohnen? Die Bauherrschaft, eine fünfköpfige Familie, die bereits länger Kontakt mit Wigglesworth pflegt, empfin­det das nicht so. Ihr Ordnungssinn sei seit jeher ausgeprägt, und sie geniesst es, dass nun alles seinen Platz hat. «Sehen Sie, das ist doch ideal, wie sich die Stühle unter dem Tisch versorgen lassen, damit sie nicht irgendwie im Raum stehen», führt die Hausherrin den als kompaktes Volumen im Raum stehenden Esstisch vor. Selbst den fast erwachsenen Kindern bereitet das offenbar keine Mühe. Das Popstar-Poster-Alter haben sie hinter sich, die Gegen­stände auf ihren Tischen lassen sich an einer Hand abzählen. Der Architekt könnte sich keine bessere Bauherrschaft wünschen: Nicht mal fremde Kunst stört das Bild. WH

Im Wohnraum ist von den Fenstern über die Möbel bis zu den Leuchten und der violetten Farbe alles präzise arrangiert.
Am Grundriss ist die einfache Struktur mit dem Wohnteil, dem Schlaftrakt und der eingeschobenen Erschliessung ablesbar.

Einfamilienhaus
2005

Architektur (Entwurf)
Peter Wigglesworth
Gachnang

Ausführung
Peter Wigglesworth
Antonio Cocca
Udo Fasching
Zürich

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